Alle sechs Jahre werden bei den Sozialwahlen die Vertreter*innen der Versicherten in den Gremien der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Unfallversicherungen gewählt – zuletzt 2023. Trotz ihrer Bedeutung wird die drittgrößte Abstimmung des Landes und die in den Gremien geleistete Selbstverwaltung kaum wahrgenommen. Im Gespräch erklärt der Bundesbeauftragte für die Sozialwahlen, Peter Weiß, warum die soziale Selbstverwaltung wichtig ist und weshalb sie eine Stärkung braucht.
Alexander Suchomsky: Bei den letzten Sozialwahlen hat die Wahlbeteiligung gegenüber den vorangegangenen deutlich abgenommen. Wie erklären Sie sich das geringe Interesse?
Peter Weiß: Die Nachwahlbefragungen geben dazu klare Antworten: Viele Wahlberechtigte wissen schlichtweg mit dem Thema Sozialwahl nichts anzufangen. Ihnen sagen die Namen auf den Wahllisten nichts. Und sie wissen nicht, welchen persönlichen Nutzen sie von der sozialen Selbstverwaltung haben. Das Resultat ist, dass sie den Wahlumschlag eher wegwerfen, als ihn auszufüllen.
“Selbstverwaltung” ist ein sperriger Begriff, der vielen Bürger*innen wenig sagt. Lässt sich das Prinzip in wenigen Sätzen zusammenfassen?
Peter Weiß: Wir alle sind verpflichtet, Beiträge in die Sozialversicherung zu zahlen. Sie dienen dazu, uns vor zukünftigen Risiken zu schützen. Deshalb ist es richtig und notwendig, dass Vertreter*innen der Versicherten in den Parlamenten darüber wachen, dass an der Spitze der Versicherung ein qualifiziertes Management steht und sorgfältig mit den Versichertengeldern umgegangen wird. Gleichzeitig wird darauf geachtet, dass benötigte Leistungen rasch und schnell gewährt werden. Das ist Aufgabe der sogenannten Selbstverwalter*innen.

Befürworter*innen betonen, dass die soziale Selbstverwaltung ein Teil gelebter Demokratie in Deutschland sei.
Peter Weiß: Wir erleben in Deutschland seit vielen Jahren eine intensive Diskussion über Bürgerbeteiligung. So werden zum Beispiel Bürgerräte nach dem Zufallsprinzip eingesetzt, um bestimmte Themen zu bearbeiten. Dabei geht unter, dass wir in der Sozialversicherung ein klassisches Instrument haben, nämlich das der Selbstverwaltung, also ein Parlament der Versicherten und der Arbeitgebenden. Diese soziale Selbstverwaltung ist ein wichtiges Stück Demokratie in unserem Land, das man nicht neu erfinden muss, sondern vielleicht stärker beleben muss. Eine Idee könnte sein, der Selbstverwaltung Verfassungsrang zu verleihen.
Genau dies schlagen Sie auch im Abschlussbericht zu den letzten Sozialwahlen vor. Was würde eine Aufnahme ins Grundgesetz ändern?
Peter Weiß: In der Verfassung sollte nicht nur etwas über die Organisation der Sozialversicherung stehen, sondern auch über ihren Wesensgehalt. Dazu gehört die Selbstverwaltung. Wenn diese im Grundgesetz stehen würde, könnte man politisch nicht so einfach über deren Kompetenzen hinweggehen, wie das manchmal geschieht. Ich nenne hier als Beispiel die Entscheidung früherer Bundesregierungen, die Erweiterung der sogenannten Mütterrente aus Beiträgen der Versicherten zu finanzieren. Denn hier wäre es konsequent gewesen, die zusätzlichen Ausgaben aus Steuermitteln zu finanzieren. Die finanzielle Anerkennung von Kindererziehungszeiten ist nämlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Was könnte eine Selbstverwaltung mit Verfassungsrang dagegen tun?
Peter Weiß: Eine Aufnahme ins Grundgesetz hätte ein Klagerecht zur Folge. Die Selbstverwaltung erhielte das Recht, notfalls als Treuhänderin der Versicherten gegen ungerechtfertigte Eingriffe in die Sozialversicherung Klage zu erheben. Das hätte immense politische Auswirkungen.
Der Präsident des Arbeitgeberverbandes, Reiner Dulger, hat kürzlich kritisiert, dass die Verwaltung der Sozialkassen zu viel Geld verschlinge. Dies läge mitunter an einer aufgeblähten Selbstverwaltung. Teilen Sie den Befund?
Peter Weiß: Unsere Sozialversicherungen haben einen relativ geringen Verwaltungskostenanteil. Auf jeden Fall ist dieser deutlich geringer als bei den privaten Versicherungen. Viele Kostensteigerungen basieren auf zusätzlichen gesetzlichen Vorgaben und bürokratischen Vorschriften. Wenn man es der Selbstverwaltung überließe, Vorschriften eigenständig zu treffen, würden beide Seiten – Arbeitgeber- und Versicherten-Vertreter*innen – schon darauf schauen, dass sparsam mit dem Geld der Versicherten umgegangen wird. Trotzdem ist es natürlich richtig, dass wir auch im Bereich der Sozialversicherung schauen, wo mehr Effizienz geschaffen werden kann. Das sehe ich als eine Aufgabe, der man sich offensiv stellen sollte.
Wäre es im Sinne einer Entbürokratisierung und Kosteneinsparung denkbar, den derzeit 94 gesetzlichen Krankenkassen einen gemeinsamen Verwaltungsrat vorzusetzen, wie dies bei der Aufsicht der Bundesagentur für Arbeit der Fall ist?
Peter Weiß: Ich halte wenig von einer Einheitskasse. Es ist aber natürlich richtig, die Struktur der Sozialversicherungsträger fortzuentwickeln. Hier ist auch schon einiges geschehen. Vor Jahrzehnten gab es mehr als tausend Krankenkassen, heute sind es noch 94. Ich bin überzeugt, dass dieser Fusionsprozess weitergehen wird. Ich könnte mir vorstellen, dass 30 bis 40 gesetzliche Krankenkassen noch immer genügend Auswahl für die Versicherten bieten würden. Wir hätten immer noch Wettbewerb im System, aber deutlich stärkere Einheiten.

Neben dem regulären Beitrag erhebt jede Krankenkasse einen Zusatzbeitrag, der von ihr eigenständig festgelegt wird. Auf diese Weise sollte ursprünglich der Wettbewerb angekurbelt werden. Angesichts der knappen Kassenlage müssen die ehrenamtlich Engagierten in den Verwaltungsräten faktisch jedoch jeder Erhöhung alternativlos zustimmen.
Peter Weiß: Die Selbstverwalter*innen aller gesetzlichen Krankenkassen klagen darüber, dass sie häufig keine freien Gestaltungsmöglichkeiten mehr haben. Deshalb habe ich vorgeschlagen, dass der durchschnittliche Zusatzbeitrag künftig nicht mehr auf Empfehlung des Bundesgesundheitsministers festgelegt wird, sondern das höchste selbstverwaltete Organ im Gesundheitswesen, der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen, entscheidet. Der Ausgabenanstieg, den wir derzeit im Bereich Gesundheit und Pflege haben, schränkt in der Tat den Handlungsspielraum der Selbstverwaltung ein. Deshalb ist die eigentliche politische Reformaufgabe, diese Ausgabendynamik wieder einzufangen.
Im Interview mit der FAZ haben Sie kürzlich darauf verwiesen, dass die aktuell hohen Beiträge darauf beruhten, dass der Bund nicht alle versicherungsfremden Leistungen decke, wie beispielsweise die sogenannte Mütterrente.
Peter Weiß: Faktisch herrscht im Moment ein Kuddelmuddel, weil nicht klar geregelt ist, für welche Leistungen die Beitragszahler*innen Verantwortung tragen und für welche Leistungen der Staat. Wenn man dies einmal ordnen würde, könnte der Beitragssatz zu allen Sozialversicherungen um rund 4,5 Prozentpunkte abgesenkt werden. Hier liegt allerdings die Verantwortung bei der Politik.
KOLPING, KAB und die evangelischen Arbeitnehmerverbände wirken seit vielen Jahren in der sozialen Selbstverwaltung mit. Wozu braucht es in der heutigen Zeit noch christliche Arbeitnehmerorganisationen?
Peter Weiß: Aus ihrer Tradition wissen christliche Verbände sehr gut, um was es bei der Selbstverwaltung geht und warum es sie gibt. Es waren christlich-soziale Politiker, die im 19. Jahrhundert den Versicherungsgedanken durchgesetzt haben und damit auch die Grundlage für die Selbstverwaltung. Sie ist ein gelebtes Beispiel für die Grundsätze, die wir in der christlichen Soziallehre vertreten: Der Mensch steht mit seinen individuellen Bedürfnissen im Mittelpunkt des Handelns. Gleichzeitig ist er Teil einer solidarischen Gemeinschaft, die hilft und unterstützt. Es ist ganz wichtig, dass es in der Sozialversicherung und deren Selbstverwaltung Menschen gibt, die auf dieser Grundlage ihre Entscheidungen treffen.
Das Interview führte Alexander Suchomsky, ACA-Bundesgeschäftsführer
Bilder: Barbara Bechtloff
Das Interview ist im Kolpingmagazin Ausgabe 3/2025 erschienen.